Mittwoch, 26. Juni 2013

Ist Sprache nicht mehr als twittern?


Text: Melinda Melcher, Illustration: Patrick Herger

Die Lust auf Macht ist en Vogue. Sich als absolute Bestmarke zu betrachten neustes Gebot. Perfektes Eigenmarketing empfiehlt sich als bestmögliche Methode zum Erfolg. «Ich denke, also bin ich» (Descartes) wurde durch «ich kommuniziere, also bin ich» abgelöst. Facebook, Twitter und Co. stehen für das Ich-Marketing allzeit und relativ kostengünstig zur Verfügung. Die grosse Reichweite und die vermeintlich seriöse Erfolgsmessung via «likes» und «Google Statistics» soll Methodik und Kontrolle suggerieren. Jeder zwischenmenschliche Kontakt wird zum medialen Ereignis.
Die meisten sozialen Interaktionen mutieren zu potenziellen Bühnen. Xing-, LinkedIn-, Google Plus- und Facebook-Profile, Experten-Blogs oder die eigne Webseite sind die entsprechende Verpackung. Die Sprache – öfters auch die Bildsprache – ist das Mittel zur Selbstdarstellung. Weitere Bühnen für das Ich-Marketing bieten sich bei Präsentationen innerhalb der Firma, politischen Engagements, Podiumsdiskussionen, Kommentaren in Fachpresse oder im Social-Media-Bereich. Selbst wohltätige Aktivitäten dienen der Ich-Marke.

Nur, wie geht Mann und Frau mit dem legitimierten Narzissmus ein Leben lang um, frage ich mich? Kann Schall und Rauch die Langstrecke halten? Erkennt sich die Twittergemeinde in ihrer eigenen Sprache selbst wieder? Wen interessiert das Übermorgen, wenn regelmässiges Tagesziel ist, sich gegenüber Vorgesetzten, Mitarbeitern, Kollegen oder Partnern als Bestmarke zu positionieren?
Zielgerichtetes Networking und die Pflege der Ich-Marke sowie der alltägliche Wahnsinn absorbieren und lassen weder Raum für Musse, noch Platz, um sich selbst zu vergessen.
Zu viel Selbstbespielung löst bei mir Übelkeit aus. Ich brauche kontaktleere Zwischenräume. Mit 40 Jahren bin ich mir bewusst, dass die Dinge meist doch anders kommen als geplant, Kontakte flüchtige Gebilde sind, Freunde auch mal zu Feinden werden können, dass Planung vor allem Mahnung ist und das Weltgeschehen von wiederholenden Geschichten geprägt ist.

Was wären wir Menschen ohne Visionen und Wünsche? Selbst Illusionen sind erlaubt. Aber Achtung: Der Markt ist allgegenwärtig. Eigene wilde Ideen und nicht konforme Berufsexperimente zwecks Horizonterweiterung und Perspektivenwechsel sind gewagt. Marktkonformität gegenüber dem «Aktienmarkt», «Arbeitsmarkt» oder «Wohnungsmarkt» schützt und beruhigt die Akteure. Herr und Frau Schweizer wissen, dass sie sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und gewagte Selbstexperimente unterbinden sollten.
Konsens ist die Essenz unserer Kultur. Auffallen sollen die andern. Das Korrektiv bekommen auch prominente Abtrünnige dieser Maxime wie der Thuner Intellektuelle und Globalisierungskritiker Jean Ziegler oder der Bündner Unternehmer und Globalisierungsritter Daniel Vasella zu spüren. Soziale Unverträglichkeit ziemt sich in der «neutralen» Schweiz nicht. Hier fällt mir ein, dass selbst die klassische Sozialarbeit mit den Messgrössen «Norm» und «Abweichung von der Norm» arbeitet. Michael Becker, ein Experte der politischen Philosophie, erklärt die Sozialarbeit als Erhaltungsinstanz der Konformität. Sozialarbeiter haben die Aufgabe, Querschläger zu neutralisieren und auf den Pfad der gesellschaftlich akzeptierten Normierung zurückzubringen.

Heute ist die Marktwirtschaft die Norm, der sich «alle» zu beugen haben und in der die meisten ihr Glück – auch mit Hilfe des Ich-Marketings – suchen. Kurz: Die Marktwirtschaft ist eine von Menschen geprägte und organisierte Arbeitsgemeinschaft, deren Steuerung vordergründig dem Preis zugeschrieben wird. Auch in der Wohlstandsschweiz steht Wirtschaftlichkeit über allem. So thront die Hochfinanz über dem einfachen Volk und backt ihr eigenes Brot.
Im Leben 2.0 zählen die «richtigen» Beziehungen. Diese bringen einen ans Ziel. Somit wird die Suche nach Gleichgesinnten, Partnern und Investoren übers Netzwerken (online oder offline) als wegweisend erklärt. Netzwerkkönige wie Google und Facebook kreieren unsere neuen gläsernen Spiele. Hierzulande entwickelt Google zum Beispiel «Google Glass» – noch ohne Gesichtserkennung – um das Tauschgeschäft mediale Sichtbarkeit für Geld zu optimieren beziehungsweise zu revolutionieren.
Heutige Kommunikation erzeugt Tempo und Transparenz. Herr und Frau Schweizer passen sich so gut als möglich an. So wurde auch unser wohlgehütetes Bankgeheimnis zur offenkundigen und geborgenen Datenmine. Die neutrale kleine Schweiz musste sich der aktuellen Führungscrew des 21. Jahrhunderts – zu der auch «Commander Data» gehört – beugen. «Data» ist derzeit noch für ein westliches Regime im Ansatz. Aber auch die Illusionisten, die die Star-Trek-Episoden kreierten, beschäftigten sich mit der Frage: «Wem gehört Data?» Lieutenant Commander Data, ein Android, ein Supercomputer, der völlig logisch agiert und unfähig ist, Humor zu verstehen oder andere Gefühle zu empfinden, der dazu dient, Daten zu sammeln und zu speichern.

Mir ist das Ich-Marketing, das derzeitige Globalisierungsgebaren mit seiner selbstbezogenen Machtmarketingkultur, etwas suspekt. Liegt das nun daran, dass ich 1973 auf der Sträflingsinsel Australien geboren wurde, eine Individualistin, die keine digitale Eingeborene ist – bin – und vom Bankgeschäft und Datenbergbau keine Ahnung habe?
Nein, gewiss nicht. Zahlreiche Individualisten meiner Art sind bestimmt auch etwas über den vorherrschenden Datenwahn irritiert. Selbst in Amerika, der Heimat von «Commander Data» und Google und Co.,  wird die digital orientierte «Me-Generation» – die von sich überzeugte aber relativ konforme zwischen 1980 bis 2000 geborene Ich-Generation – in Frage gestellt.
Wir alle kreierten die Ich-Generation und prägten ihre Attitüde mit. Selbstverliebte medialinszinierte Machtmensch-Vorbilder fehlten dabei nicht. Sogar in der angepassten Schweiz bezeichneten sich Wirtschaftsführer und Meinungsmacher wie Herr Blocher selbst als «den Fähigsten» (NZZ Online).
Um aus der Masse herauszustechen soll der Mensch seine Einzigartigkeit nutzen. Die Ich-Marke-Berater fordern auf, diese Einzigartigkeit zu entdecken und sie im Freundeskreis sowie über andere Kommunikationskanäle zu üben. Dazu sei ein «gesundes» Mass an Selbstprofilierung und Selbstbehauptung notwendig. Nur bitteschön alles in angepasster Form, innerhalb der marktkonformen Struktur- und Profilangeboten. Die vorgefertigten Social-Mediaprofile lassen grüssen...
Aber auch Unangepasste und gesellschaftlich weniger einflussreiche Mitbürgerinnen und Mitbürger verfügen über Einzigartigkeit. Auch Arbeitslose, Behinderte, Straffällige und Querulanten zeichnen sich durch Ihre Besonderheit aus. Nur sind deren Originalität und Perspektive nicht konform. Ihr Stellenwert scheint unbedeutend. Ihr Marktwert ist eher tief. Ihre Ich-Marke abgestürzt und aus dem Verkehr gezogen.

Glücklicherweise verbindet Menschen letztlich mehr als der Markt und Konformität. Auch das hat die Geschichte mehrfach gezeigt. Persönlich inspiriert mich das kraftvolle Beispiel einer unbeirrten Frau, die an die Macht der Taten glaubte und mit Verstand die Mächtigen dieser Welt überzeugte – die Kenianerin Wangari Maathai (1940-2011), Professorin, Politikerin und Begründerin der Grüngürtel Bewegung, einem Wiederaufforstungs- und Sensibilisierungsprogramm, und Friedensnobelpreisträgerin 2004. Wangari Maathai hat global Menschen und Wurzeln bewegt. Neugierde, emanzipiertes Denken, Empathie, Gerechtigkeitssinn und wahre Kooperation bedarf wahrer Werte, analoger selbstsicherer Menschen, Menschen mit einem Offline-Leben, geprägt von Leidenschaft und Vorstellungskraft mit gelebten Höhen und Tiefen.
Mir ist die analoge, physische, natürliche Welt lieb und teuer und die digitale «on demand» nützlich. In der Leere jedoch begegne ich mir selbst. Dort entstehen Ideen und meine unbeirrte Motivation trotz allem authentisch zu bleiben und meinen eigenen Weg zu gehen – selbst bei begrenzter Mehrheitstauglichkeit.

Hallelujah. Werde ich durch das Ausformulieren meiner Ansichten nun zur idealistischen Wutbürgerin? Nein, wieso auch. Ich nutze und entdecke bloss die Sprache, suche nach meiner eigenen Stimme. Ich kommuniziere, also bin ich.

Dienstag, 4. Juni 2013

Eine Ode an die sonntägliche Zeitung 1.0

Text: Mario Walser, Foto: Romed Fritsche

Ich bekenne mich schuldig, ich bin ein Jünger des angebissenen Apfels. Macbook, Ipad und Iphone sind mir ans Herz gewachsen und erleichtern mir den Tag, jahrein, jahraus. Ja, bevor ich schlafen gehe, werfe ich noch einen letzten Blick auf mein liebstes Gadget – das Smartphone – und informiere mich über die letzten Neuigkeiten des Tages. Nein, einen Wecker besitze ich schon lange nicht mehr. Wieso auch, dafür habe ich ja meinen Alleskönner. Zuverlässig weckt er mich jeden morgen um sechs Uhr. Was will ich denn mehr als einen Flaschengeist, der mir jederzeit zu Diensten ist und das Leben gewaltig erleichtert. Ausser der täglichen Ration Strom wird von mir nichts gefordert; ich muss nicht mal Gassi gehen mit dem tragbaren Funkknochen.

Zugbillete kaufen und Flüge buchen – via Handy, Einzahlungen erledigen – via Handy, Lotto spielen – via Handy, fotografieren – via Handy, ausländische Währungen umrechnen – via Handy, Kaffeekapseln bestellen – via Handy, News-Fastfood wie 20 Minuten und den Blick am Abend konsumieren – via Handy, Meetings koordinieren – via Handy, Interviews aufnehmen – via Handy.
Ob beruflich oder privat – ich muss das Gerät nur ganz sanft berühren und mir wird jeder Wunsch erfüllt. Sogar telefonieren kann ich damit – oh Wunder.

Trotzdem würde ich mich nicht als Süchtigen bezeichnen. Meine Gedanken kreisen nicht 24/7 die Woche um den tragbaren Alleskönner. Ich spüre keine Vibrationen in der Hosentasche, obwohl niemand anruft. Ich simse nicht mit meinen Freunden, die in der Beiz gleich neben mir sitzen. Witzige Klingeltöne finde ich ätzend und ich nerve mich über Mitpendler, die in unverschämter Lautstärke dem ganzen Zugsabteil pikante Details aus Privat- und Berufsleben um die Ohren schlagen.

Mit meinen 40 Jahren gehöre ich nicht dem Stamm der digitalen Eingeborenen an. Ich fühle mich eher als Immigrant. Ich bin ohne Internet und MP3-Player aufgewachsen, habe mit meinen Schulkollegen nachmittags draussen gespielt und noch eine Welt vor Twitter und Facebook erlebt. Und trotzdem – oder gerade deshalb, Fragezeichen, habe ich eine Frau gefunden und Kinder gezeugt.

Ich behaupte sogar, ein sinnlicher Zeitgenosse zu sein. Das heisst, ich versuche mit offenen Augen und Ohren durchs Leben zu gehen und erfahre gerne das Schöne und Anregende dieser Welt. Schönes und Anregendes kann ich auch via Handy erfahren. Insofern führe ich mit meinem virtuellen Flaschengeist also durchaus eine sinnliche Beziehung. Doch ein Vergnügen kann er mir nicht geben, so sehr er sich auch bemüht: die nachhaltige Lektüre meiner Sonntagszeitungen.

Die Resultate investigativster Recherche  in der Version 2.0 via Display auf dem Tablet oder Natel zu lesen – ein Sakrileg. Das käme mir niemals in den Sinn. Da bleibt die Sinnlichkeit für mich dann doch auf der Strecke. Ein gut geschriebener Artikel braucht keine zehn zusätzliche pseudoinformative Links. Ich will selber denken.

Deshalb: nichts geht über das Rascheln des Zeitungspapiers, den frischen Duft der Druckerschwärze und das umständliche Falten der Zeitung. Und dazwischen ein Schluck Orangensaft oder Kaffee. Ich fühle mich moralisch verpflichtet, das seriöse journalistische Schaffen angemessen zu würdigen. Das kann mir nur ein Medium mit garantiertem Mindesthaltbarkeitsdatum bieten: Die sonntägliche Zeitung 1.0 – auf Papier.

Mittwoch, 9. Januar 2013

Zwischen zwei Welten



Text: Angela Alliegro, Foto: Johny Nemer

Ich lebe in zwei Welten. Die erste Welt ist die des Berufs, der Pflichten, der Frustrationen und der Opfer. All das, was die meisten Menschen als das reale Leben sehen. Die zweite Welt ist der Bereich der Träume, der Projekte und Visionen. Diese schwebt sanft parallel neben der ersten. Ich realisiere nur wenige Projekte dieses zweiten Bereichs. Zwar besteht der Wunsch, diese Visionen zu konkretisieren; weil sie kurzfristig kein Geld einbringen, lasse ich sie aber auf der Wartebank sitzen und gehe Tätigkeiten nach, die den Lebensunterhalt garantieren.

Menschen, die einen kreativen Beruf ausüben, haben es wohl besser geschafft, die zweite Welt in die erste zu integrieren, oder anders gesagt: Es ist ihnen gelungen, ihre Träume in Taten umzusetzen. Ich habe immer die zweite Realität als eine notwendige gesehen, um die erste überhaupt aushalten zu können. Wir brauchen die zweite Welt, um uns als Menschen nicht aufgeben zu müssen, um eine innere Zufriedenheit aufrechtzuerhalten. Mit dem Nebeneinander der zwei Welten hat sich auch der österreichische Philosoph Robert Pfaller auseinandergesetzt:

«Die erste Welt selbst scheint es regelmässig mit sich zu bringen, dass wir den Traum von einer zweiten, anderen entwickeln müssen – nämlich um eben in der ersten zu leben».

Die Projekte und Visionen, die ich habe, kann ich nicht in meine berufliche Tätigkeit einbringen. Ich habe es jedoch punktuell versucht: mit meiner Lizentiatsarbeit über Indigene im Andenhochland, mit einem Dissertationsvorhaben in Argentinien, mit meinen zahlreichen Kulturreisen. Ich war zeitweise in der zweiten Domäne und kam immer wieder in die erste zurück. Mit Trauer musste ich jedes Mal feststellen, dass ich nicht in der zweiten Welt leben kann, dass ich diese nicht zu meiner ersten machen kann. Von dieser zweiten Sphäre musste ich immer wieder in die erste zurückkehren und versuchen, in ihr Fuss zu fassen – mit Berufen wie Lehrerin, Archivarin oder Teamleiterin. Ohne Fantasie und mit viel Routine. Vielleicht ist darum mein zweiter Lebensbereich so gross: Ich brauche ihn umso mehr, um im ersten zu bestehen.

Die Frage bleibt aber weiterhin offen: Wie kann ich wenigstens einen Teil meiner Träume umsetzen und davon leben? Sobald ich mich diesen Projekten widme, einzelne Tage oder Stunden, kommt ein ungutes Gefühl in mir auf, das mich nicht mehr still sitzen lässt. Was mach ich da bloss? Ich muss doch eine Stelle suchen. Ich kann nicht einfach hier sitzen und über etwas schreiben, das womöglich nie publiziert wird und somit niemand liest.

Während des Praktikums, das ich zurzeit bei einer Fachzeitschrift absolviere, haben sich die zwei Wirklichkeiten das erste Mal gestreift. Ich verdiene zwar kein Geld mit den Artikeln, die ich für die Zeitschrift realisiere, doch ich erhalte Geld von der Arbeitslosenkasse. Das Recherchieren und Schreiben der Artikel ist nicht so tiefgründig wie bei einer Dissertation, aber dafür sehe ich meinen Text innerhalb von ein paar Wochen publiziert und weiss, dass ihn ein paar Leute lesen werden.

Doch was würde passieren, wenn ich immer mehr meiner Zweitwelt-Projekte in der ersten Welt verwirklichen würde? Würde da die zweite Welt zur ersten? Vielleicht hätte ich an der zweiten Welt gar keine Freude mehr, wenn der Kontrast zur ersten fehlen würde. Ein Traum ist nur ein Traum, wenn er nicht verwirklicht wird. 

Montag, 3. Dezember 2012

Gehirndoping, und dann?


Text: Carmen Püntener, Foto: Johny Nemer

Manchmal habe ich schlechte Laune. An diesen Tagen bin ich nicht gut drauf, bin schnell genervt, nichts gelingt mir. Ich nenne das den «Morelli». Meine Nächsten wissen, was das heisst. So kann ich auf die Frage «Wie geht’s?» auch einfach antworten: «Ich habe den Morelli», und damit ist alles gesagt. Sie wissen, dass sie mich dann am besten einfach in Ruhe lassen. Auch wenn ich nicht glücklich darüber bin, dass dies manchmal passiert, merke ich doch, dass ich diese Tage brauche, um zwischendurch mal durchzuatmen.

Nun ist das im Job aber nicht gerade förderlich. Denn da sehen Mitarbeitende und Vorgesetzte ihre Kollegen am liebsten, wenn sie fröhlich sind, lächeln, sich engagieren, ihre Arbeiten schnell und zuverlässig erledigen. Soll ich mich nun also an meinen «Morellitagen» jeweils ein bisschen aufputschen, ein Antidepressivum einnehmen? Das würde mir helfen, meine Stimmung zu heben und arbeitsadäquat zu funktionieren.

Die heutigen Anforderungen an Arbeitnehmende sind vielfältig. Und die gängigen Tugenden der Leistungsgesellschaft einseitig: Wer selbstbewusst, zielgerichtet und effizient arbeitet, kommt schnell vorwärts und macht Karriere. Mit Psychostimulanzien – etwa dem Konzentrationsförderer Ritalin oder dem Wachmacher Modasomil – können sich Menschen diesen Eigenschaften annähern. Und für eine gewisse Zeit die Arbeit als «Überflieger» erledigen. Ist das legitim? Sollen wir unsere Gedächtnisleistung mit Hilfe von Tabletten und Pülverchen auf Vordermann bringen dürfen, um mit den steigenden Anforderungen der Arbeitswelt Schritt halten zu können?

Wissenschaftler sehen das sogenannte Neuro-Enhancement – die geistige Leistungssteigerung mittels Medikamenten – als normale Weiterentwicklung des Menschen (siehe Fokus in «der arbeitsmarkt» Nr. 12/12). Dieser war schliesslich schon immer bestrebt, sich ständig zu verbessern. Das Gehirn einer Person gehöre nur ihr selbst, und sie entscheide allein, ob sie dessen Leistung mit Hilfsmitteln verbessern wolle. Das ist ein verbreitetes Argument für die Einnahme von Psychostimulanzien. Doch müssen wir uns denn wirklich ständig verbessern? Und wenn einer damit anfängt, besteht dann durch den Konkurrenzdruck nicht ein indirekter Zwang zum Konsum solcher Substanzen?

In einem meiner früheren Jobs war da dieser stille Mitarbeiter, der ganz hinten auf dem Gang sein Büro hatte, ein etwas verschrobener Kerl. Er war ein typischer «Eigenbrötler», war oft allein, seltsam angezogen und redete manchmal in der Kaffeepause wirres Zeug. Bei Teamsitzungen sass er meistens still da und sagte nichts, so dass wir uns manchmal fragten, was er denn überhaupt an diesem Ort zu suchen hat. Doch nicht nur einmal habe ich erlebt, dass er plötzlich ein entscheidendes Argument einbrachte, welches das Projekt, an dem wir gerade arbeiteten, grundlegend veränderte – in eine neue Dimension lenkte. Ich habe diesen Mitarbeiter mit der Zeit sehr schätzen gelernt, gerade weil sein Wesen nicht den üblichen Arbeitsgepflogenheiten angepasst war. Er konnte assoziativ denken und hatte die geniale Fähigkeit, immer wieder die Perspektive zu wechseln und ein Problem von vielen Seiten gleichzeitig zu betrachten. Mit dem richtigen Medikament wäre er vielleicht wie alle anderen fröhlich plaudernd durch das Büro geschlendert, hätte sich dann konzentriert in eine Sache vertiefen können und effiziente Resultate präsentiert. Doch dann wäre uns sein besonderer Blickwinkel verloren gegangen. Bei der ganzen Diskussion um das Neuro-Enhancement frage ich mich daher insbesondere: Was zerstören wir, wenn wir eine Gesellschaft erschaffen, in der alle Menschen in gleicher Weise funktionieren müssen?

Ich möchte weiterhin ab und zu bei der Arbeit müde sein dürfen, möchte mich, wenn der «Morelli» kommt, etwas zurückziehen können und freue mich, wenn meine Arbeitskollegen akzeptieren, dass ich dann weniger gesprächig bin. Und ich wäre froh, wenn mir mein Arbeitgeber verziehe, dass ich ab und zu nicht 120 Prozent, sondern vielleicht nur 85 Prozent der Leistung bringen kann. Vielleicht präsentiere ich dafür am nächsten Tag die zündende Idee für das nächste Projekt.

Montag, 5. November 2012

Erst gesucht, dann unerwünscht – Erlebnisse einer Ingenieurin*



Text: Regula Pfeifer, Foto: Johny Nemer

Angenommen, ich wäre eine erfahrene Ingenieurin. Ich hätte mich nicht abschrecken lassen von der Übermacht der männlichen Studienkollegen, hätte die Professoren von meinen Fähigkeiten überzeugt und ein gutes Diplom erreicht. Auch der Einstieg ins Berufsleben wäre mir leicht gefallen. Ingenieure sind ja gesucht, da schaut keiner, ob’s eine Frau oder ein Mann ist. Solange ich Vollzeit arbeite, bin ich voll dabei.

Klar muss ich mir die Spielregeln aneignen. Die Angst vor Konfrontationen verlieren, direkt kommunizieren, klare Forderungen stellen. Auch das Spiel mit den Netzwerken gehört dazu. Das nutzen ja auch die Kollegen für den beruflichen Aufstieg. Ich lese die Sportnachrichten und diskutiere mit, beteilige mich an ihrem wöchentlichen Fussballspiel und dem Feierabendbier.

Dann lerne ich einen Mann kennen, der Wunsch nach Kindern kommt hoch, ich werde schwanger. Nun dreht der Wind. Der Chef des Betriebs, in dem ich arbeite, ist schockiert. Ich frage, ob ich nach dem Mutterschaftsurlaub Teilzeit arbeiten könne. Verständnisloser Blick. Es kommt zu einem Gespräch. Wie ich mir das vorstelle, eine solch wichtige Position in drei Tagen professionell ausfüllen zu können? Da brauche es vollen Einsatz.
Der Chef zieht sich zurück, will nichts mehr wissen, die Kollegen ebenso. Die Stimmung gefriert, die Arbeit wird zur Qual.
Das schlägt mir auf den Magen, der Arzt schreibt mich tageweise krank.

Ich bemühe mich um weitere Gespräche mit dem Chef. Er verlangt, dass ich ganz oder gar nicht wieder einsteige nach dem Mutterschaftsurlaub. Vollzeit kann ich mir nicht vorstellen, also bin ich gezwungen zu kündigen. Der Ärger frisst in mir. Ich kann das private Kinderglück kaum geniessen.

Die Zeit geht vorbei, die Krippe ist gefunden – und ich suche eine neue Stelle. Doch auf mich wartet niemand mehr. Und niemand spricht aus, was wahrscheinlich dahinter steckt. Auf Mütter ist kein Verlass, sie fallen aus, wenn das Geschäft sie braucht, weil das Kind krank ist.

Eine Firmenmesse lässt mich aufhorchen. Unternehmen aus der Schweiz und den deutschsprachigen Nachbarländern wollen Ingenieure rekrutieren. 600 Stellen seien frei. Ich beschliesse hinzufahren.

Die Messehalle durchschreite ich, ich will zum Vortragssaal. Der ist voll, voller schwarzer und grauer Anzüge. Ein Stuhl ganz vorne ist frei. Ich setze mich hin, spüre die Blicke im Nacken und auf meiner violetten Bluse. Der Vortrag beginnt. Vieles ist mir bekannt. Ingenieure sind gefragt, die Berufsaussichten super, die Löhne nicht zu verachten, Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden.

Von Teilzeit kein Wort, von Kinderbetreuung ebenso wenig. Dafür werden die Gratisparkplätze betont. Dann kommt’s dicker. Der Personalvermittler erzählt: Sein Klient wollte eine Stelle nicht annehmen. Wenige Kilometer Reiseaufwand waren ihm zuviel. Betretenes Schweigen im Saal, dann bissiger Spott des Referenten: Daran seien die Partnerinnen schuld, sie zwängen ihre Männer, um sechs Uhr abends zum Abendessen aufzukreuzen.

Ein Schauder durchfährt mich.  Ich fühle mich unerwünscht in dieser Männergesellschaft. Leise stehe ich auf – stehle mich mit gesenktem Kopf aus dem Saal. Erst mal an die frische Luft. Mal schauen, ob ich danach wieder Mumm habe, ob ich mich in die Messehalle zurück wage und an den Firmenständen die Personalverantwortlichen anspreche.

* Die Figur der Ingenieurin ist erfunden. Doch die Geschichte basiert auf eigenen und fremden, recherchierten Erfahrungen. Selbst erlebt ist die Vortragssituation unter Männern. Auf Recherchen beruht die Diskriminierung von schwangeren erwerbstätigen Frauen.

Dienstag, 25. September 2012

Ein Berner in der Grossstadt





Text und Foto: Martin Weiss

Ein immer wiederkehrendes Klischee lässt sich wissenschaftlich belegen: In Bern ist man wirklich langsamer unterwegs als anderswo – dies manifestiert sich im 2007 durchgeführten Fussgänger-Geschwindigkeits-Ranking, wo die Berner mit knapp über drei Stundenkilometern Rang 30 von 32 belegten.

Als in Zürich arbeitender Berner wird mir die Sache mit der Gemütlichkeit (böse Zungen nennen es Langsamkeit) denn auch bei jeder Gelegenheit unter die Nase gerieben: Ist der Zug verspätet, ist schnell klar wieso – er ist in Bern abgefahren. Oder wenn die Sitzung länger dauert, liegt es daran, dass ein Berner dabei war. Sehr beliebt sind auch Witze wie etwa der von jenem Berner, der sich gestern die «Seegfrörni» von 1963 ansehen wollte.

Nach einigen Monaten in der Grossstadt hatte ich die Sprüche satt und beschloss, etwas zu ändern. Ich begann also, durch die Bahnhofstrasse zu rennen, um ja nicht aufzufallen. Das Mittagessen schlang ich in Rekordzeit herunter und verzichtete sogar meistens auf das gemütliche «Käffele». Im Zug setzte ich automatisch meine Ellenbogen ein, um mir den besten Platz zu verschaffen, und fuhr zum «HB» und nicht mehr zum «Bahnhof». Irgendwann fing ich an, im ortsüblichen Tempo zu sprechen – und merkte, dass dies im Berndeutsch nicht praktikabel ist. 

Gerade bevor ich also den Zürcher Dialekt übernahm, besann ich mich darauf, dass ich als authentischer Hauptstädter nicht nur ein Riesengewinn an Entschleunigung für Zürich bin, sondern im Gegenzug auch vom wohlbekannten und nicht zu unterschätzenden Berner Bonus profitiere.

Nach dem Motto «ig bi was ig bi» bleibe ich also gerne ein Berner in Zürich und versuche Tag für Tag, etwas Berner Gemütlichkeit in die Zürcher Hektik zu bringen.  

Mittwoch, 29. August 2012

Ohne Licht kein Bild





Text und Foto: Marga Schuttenhelm

Ist der Akku geladen? Sind die Daten von der Speicherkarte gelöscht und die Linsen frei von Staub und Schmutz? Ich sitze auf dem Stubenboden, um mich herum ausgebreitet mehrere Objektive, verschiedene Kabel und meine Kamera. Seit einem Jahr bin ich als semiprofessionelle Fotografin tätig. Vor jedem Fotoshooting überprüfe ich die gesamte Ausrüstung und versuche zu entscheiden, was ich alles für die Aufnahmen brauche und mitnehmen muss. Wie üblich packe ich viel mehr in den Fotorucksack ein als nötig – man weiss ja nie, für einen Fotografen lauert hinter jeder Ecke ein Motiv, und wie man so schön sagt: «Die Erfahrung lehrt einen.»

Einer meiner ersten Fotoaufträge, den ich nicht so schnell vergessen werde, fand in einem Kieswerk im sanktgallischen Bazenheid statt: eine Fotoreportage über die Ausbildung von Rettungshunden durch den Verein Redog, eine gemeinnützige, humanitäre Freiwilligen- organisation, die ihre Dienste im In- und Ausland anbietet. Ich dachte: «Super, Kieswerk – das gibt Aussenaufnahmen. Licht ist genug vorhanden; den Blitz kann ich getrost zu Hause lassen, dann muss ich nicht so viel Material schleppen.»

Am Samstagmorgen im Kieswerk angekommen, treffe ich in der grossen Werkhalle die Hundeausbildner mit ihren Tieren. 
Sie besprechen gerade die einzelnen Übungseinheiten. Ich höre gespannt zu. Ein Ausbildner spielt das Opfer und versteckt sich auf dem Gelände des Kieswerks. Der Hundeführer nimmt mit seinem Hund die systematische Suche nach der vermissten Person auf. Mit der Kamera bewaffnet, folge ich dem Duo. Knips, knips, knips – schnell die Bilder auf dem kleinen Monitor prüfen, die Belichtungseinstellung korrigieren, und weiter: knips, knips … Ja, das kommt – nicht gut. Völlig überraschend finde ich mich in den unterirdischen Gängen des Kieswerks wieder.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Es ist dunkel, kein Tageslicht, nur alle paar Meter eine Notlampe, die spärlich vor sich hinflackert. Ich suche nach meinem Blitz – oh nein, der liegt zu Hause! Meine letzte Hoffnung sind der integrierte Aufhellblitz an der Kamera und mein Fotobearbeitungsprogramm zu Hause am Computer. Es bleibt keine Zeit zum Überlegen … knips, knips …

Später fahre ich frustiert heimwärts. Ich ärgere mich über mich selber.
Am Computer sichte ich die Bilder, die Auswahl der Fotos ist schnell getroffen. Es sind doch noch tolle Aufnahmen geworden. Glück gehabt!

Mein Fotorucksack ist gepackt. Ein letzter prüfender Blick – ja der Blitz ist drin.